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Blick ins Buch
- Inhaltsverzeichnis und Kapitel 1 -
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Ein Schlüsselerlebnis (Vorwort)

Manchmal öffnet sich unerwartet eine Tür und der Blick auf Dinge ändert sich grundlegend. So erging es mir, als ich nach dem Tod meiner Stiefmutter plötzlich einen riesigen Schlüsselbund in der Hand hielt. Dieses schwere Utensil mit unzähligen großen, alten Schlüsseln war mir seit Kindheitstagen bestens bekannt. Meine Mutter hütete es mit Argusaugen.

Erika Schliebusch hatte die Angewohnheit, alles, aber auch alles wegzuschließen und meinen Blicken zu entziehen. Oft trug sie diesen Bund in Schürze oder Kittel, wo er sich ganz deutlich abzeichnete. Ich beobachtete oft und mit großer Neugier die Kisten und Schachteln, in denen sich in meiner Vorstellung unendlich spannende Dinge befinden mussten. Auch kam es vor, dass ich, wenn meine Stiefmutter die eine oder andere Schranktüre öffnete, die zierlichen Kistchen in die Hand nahm, sie schüttelte, horchte und mir vorstellte, was sie wohl enthalten könnten. Doch meine Mutter passte auf – immer. In meiner Kindheit blieb mir der Einblick in die Geheimnisse meiner Eltern stets verwehrt.

Ich erinnere mich an meine Kindheit und Jugend in erster Linie als Beobachter mit wachem Auge und Ohr. Ich betrachtete genau, was passierte und hörte gespannt, was meine Eltern besprachen. Meistens drehten sich ihre Gespräche ums Geschäft, um die alltäglichen Notwendigkeiten des Lebensmittelgroßhandels Josef Schliebusch; die Sorgen und Nöte, die Freuden und Erfolge. Ich nahm ihre Stimmungen wahr, ohne recht zu wissen, was genau geschah.

Erst nach dem Tode meiner Mutter im Jahre 1999 erlangte ich die posthume Erlaubnis zur Expedition in die Vergangenheit. Ich nahm mir Zeit, das Geheimnis meiner Kindheit zu lüften. Ich fuhr alleine nach Niederbachem in die Wohnung meiner Eltern. Zunächst schien es mir, dass ich etwas Verbotenes täte. Der Schatten vergangener Jahre holte mich ein. Meine Mutter stand vor mir und wies mich mahnend darauf hin, dass der verschlossene Inhalt nicht für meine Augen bestimmt sei.

Als ich schließlich fast feierlich Schränke, Schubladen und Kästchen öffnete, fand ich Briefe, Fotos, Notizen, Urkunden, Schmuck und manch anderen Gegenstand, der mich weit in die Vergangenheit zurückführte. Plötzlich war ich wieder der kleine Junge aus Lannesdorf und Godesberg, der Jugendliche aus Oberwinter und der junge Mann aus Niederbachem.
Die Fotos und Papiere dokumentierten detailliert das Leben meiner Eltern Josef und Erika Schliebusch: die Gründung des Lebensmittelgroßhandels in Lannesdorf, Erinnerungen aus dem Krieg, Baupläne, Briefe aus dem Internat, Zeugnisse, Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden.

Manche Ereignisse aus den 1950er bis 1980er Jahren erschienen gestochen klar vor meinem geistigen Auge, andere blieben im Halbdunkel. Es beschlich mich eine andächtige Ergriffenheit. Ich vertiefte mich in die Geschichte meiner Eltern und in mich selbst. Es fügten sich bislang unzusammenhängende Fragmente zu neuen Bildern.

Mich faszinierte diese historische Rekonstruktion des Schicksals meiner Eltern derart, dass ich mich dabei erwischte, mich weit weniger um die Haushaltsauflösung in Niederbachem zu kümmern als um die Sichtung der Schubladen und Kisten. Ich betrachtete jedes einzelne Blatt Papier, jedes Foto; sortierte, ordnete und durchwanderte meine Erinnerungen auf der Suche nach Zusammenhängen. Ich legte Ordner an: einen, zwei, drei … Ich las, recherchierte, sprach mit Zeitzeugen und besuchte die Stätten meiner Kindheit. Meine Forschung wuchs recht bald zu einem stattlichen Archiv.

Mit der Zeit interessierte mich neben der Beschäftigung mit meiner eigenen Familiengeschichte auch die Betrachtung jener Zeit an sich. Wie mag es gewesen sein im Bad Godesberg der 1950er Jahre? Wie erging es dem Mittelstand, dem Lebensmittelgroßhandel?

Durch die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit diesem folgenreichen Jahrzehnt eröffneten sich mir Einblicke, die ich damals als Junge oder Jugendlicher nur geahnt, aber nicht verstanden hatte. Die 1950er Jahre stellten die Weichen auf Zukunft. Man legte die grundsätzlichen Strukturen unseres demokratischen Systems fest. Leben und Gesellschaft wandelten sich in rasantem Tempo. Ich erinnere mich, wie geschäftig, emsig und optimistisch meine Eltern und die Menschen um mich herum zu Werke gingen.

Die Menschen jener Zeit verfolgten ein gemeinsames Ziel: den Wiederaufbau. Das Zentrum von Bonn lag in Trümmern, Bad Godesberg teilweise. Mehr als 20 Prozent der Wohnungen hatte der Zweite Weltkrieg zerstört. Doch man murrte nicht, rückte zusammen und packte an. Zwischen 1950 und 1960 errichteten unsere Landsleute in Westdeutschland mehr als fünf Millionen neue Wohnungen!

Die 1950er Jahre gelten zudem als Wiege der Modernität. Die Gründerjahre markierten den Höhepunkt des Radiozeitalters und den Beginn der Fernsehära, was ich als Jugendlicher natürlich gespannt verfolgte. Außerdem begann damals der Automobilboom. Durch steigende Löhne zur Zeit der Vollbeschäftigung lag der Kauf eines PKWs für viele im Bereich des Möglichen. Im letzten Drittel des Jahrzehnts entdeckte Deutschland schließlich den Tourismus. Man gönnte sich etwas, fuhr in Urlaub – mit Bahn, Bus oder dem eigenen Auto. Spannende Zeiten. Viele Entwicklungen, die damals ihren Anfang nahmen, gelten heute als Selbstverständlichkeit.

Durch die intensive Beschäftigung mit dieser Zeit konnte ich die Geschichte meiner Familie nicht nur nachvollziehen sondern auch nachempfinden. Die Einschätzung vergangener Ereignisse verschob sich durch neue Informationen und eine neue Betrachtungsweise. Ich verstand nun Dinge, die mir als Kind, Jugendlicher, selbst als junger Mann verschlossen geblieben waren. Eines wurde mir immer klarer: trotz manchen Missverständnisses prägten mich meine Eltern. Ich bin ganz entschieden ihr Sohn. Viele Erfahrungen kamen und kommen mir heute zugute. Erfahrungen, die ich auf keiner Schule und keiner Universität hätte erlernen können – meine ganz eigene Geschichte.

In diesem kleinen Buch will ich nun über meine Eltern berichten und über die Firma meines Vaters, sein Lebenswerk. Und ich will über einen sehr interessanten Zeitabschnitt in Deutschland und Bad Godesberg schreiben: Nachkriegszeit, Wiederaufbau und Wirtschaftswunder.

Ich schreibe in erster Linie für mich, lege mir selbst Rechenschaft ab über meine Herkunft, meine Wurzeln. Ich denke aber auch an meine Kinder. Was werden sie zur Biographie ihres Opas sagen, zur Geschichte meiner Jugend? Finden sie sich selbst im Spiegel der Schliebuschchen Tradition?

Rudolf Udo Schliebusch, im April 2019